Reflektiertes Denken 3/3:Realität vs. Wahrheit. Wofür brauchen wir Wissenschaft?
Therapieerfolge sind faszinierend, nicht wahr? Ein Patient wird besser, vielleicht sogar komplett schmerzfrei, und wir schreiben diesen Erfolg unserer Behandlung zu. Doch war es wirklich unsere Therapie, die geholfen hat? Oder war es etwas anderes? Genau hier liegt die Grenze zwischen Realität und Fiktion.
Was ist Wahrheit?
Beginnen wir mit einer überraschend schwierigen Frage: Was ist wahr? Stellen wir uns einen Raben vor. Welche Farbe hat er? Die meisten würden sagen: Schwarz! Doch gibt es nicht auch weiße Raben? Die Wahrnehmung eines Einzelnen mag überzeugend sein, doch sie ist begrenzt. Eine einzelne Beobachtung reicht selten aus, um die Realität abzubilden. Manchmal reicht aber eine Beobachtung, um als wahr erachtete Überzeugungen zunichte zu machen, wie z.B. die Beobachtung und Entdeckung eines weißen Raben. Hier kommt die Wissenschaft ins Spiel. Studien untersuchen nicht nur einen Raben, sondern viele – auch jene, die wir selbst nie gesehen haben. Sie erfassen asymptomatische Patienten, Menschen, die nie in einer Praxis auftauchen, und jene, die in ihrer Umwelt unauffällig bleiben. Genau deshalb sind Studien so wertvoll: Sie schaffen eine breitere Grundlage für unser Verständnis der Realität und bringen uns der Wahrheit ein Stück näher. Weil, sind wir ehrlich: In unserer Praxis sehen wir vor allem Menschen, die Probleme haben. Das verzerrt unseren Blick. Wir tendieren dazu, Auffälligkeiten ausschließlich mit diesen Patienten in Verbindung zu bringen. Unser hochgepriesener Erfahrungsschatz ist auf genau dieser spezifischen Population begrenzt. Doch was ist mit denjenigen, die keine Probleme haben? Haben sie nicht vielleicht genau die gleichen Auffälligkeiten? Unsere Erfahrungswerte sind begrenzt und zeigen nur einen Teil der Realität – einen, der stark durch unser Umfeld und unsere berufliche Praxis beeinflusst ist. Genau hier wird die Wissenschaft zu einer wertvollen Ergänzung: Sie erweitert unseren Horizont über die eigenen vier Wände hinaus und hilft uns, ein umfassenderes und objektiveres Verständnis zu entwickeln.
Die Qualität der Beobachtung zählt
Aber auch Studien sind nicht perfekt. Wie gut etwas beobachtet wird, hängt von den Werkzeugen ab: Ein Beobachter mit Brille sieht vielleicht mehr Details als jemand ohne Sehhilfe, während ein Teleskop noch genauere Einblicke bietet. Metaanalysen – die Zusammenfassung und Bewertung vieler Studien – sind hier von unschätzbarem Wert. Sie bewerten die Qualität der Beobachtungen, sortieren gute von schlechten Daten und liefern so fundiertere Ergebnisse. Doch selbst Metaanalysen können uns keine absolute Wahrheit liefern. Sie bringen uns jedoch unzweifelhaft näher an sie heran als Einzelfallberichte oder persönliche Erfahrungen. Die Kehrseite der Medaille ist, dass Meta-Analysen und Studien durch Standardisierung und Homogenisierung das Individuum und den Einzelfall mit den entsprechend individuellen Umständen und Bedürfnissen, nicht einbeziehen. Was für generalisierte Aussagen und Gesundheitsempfehlungen, auch nicht nötig ist. Denn wenn etwas im Schnitt keinen Effekt zeigt, kann man diese Intervention nicht pauschal empfehlen.
Die Gefahr der Übertragung von Einzelfällen
Ein großes Problem in der Therapie ist die Übertragung von Einzelfällen. Ein Patient spricht auf eine Methode an, und wir beginnen, sie bei allen ähnlichen Fällen anzuwenden. Doch war der Erfolg wirklich auf die Therapie zurückzuführen? Oder war es ein Zufall, eine andere Einflussgröße, vielleicht sogar die natürliche Heilung? Hier laufen wir Gefahr, Fiktion für Wahrheit zu halten.
Wissenschaft und Erfahrung: Kein Widerspruch
Wissenschaftliche Studien werden manchmal als kalt und unpersönlich wahrgenommen, als Gegensatz zur zwischenmenschlichen Intuition. Doch das ist ein Missverständnis. Wissenschaft betont die Bedeutung von Erfahrung, Soft Skills und der individuellen Präferenz des Patienten. Sie schließt diese Elemente nicht aus, sondern integriert sie in ein größeres Bild. Die beste Therapie basiert auf einer Kombination von wissenschaftlicher Evidenz und individueller Anpassung. Dabei werden die Studienergebnisse als Grundlage genommen, jedoch im Kontext der Präferenzen und Bedürfnisse des Patienten angewendet. Es geht nicht um ein Entweder-oder, sondern um ein Sowohl-als-auch.
Die Rolle der Evidenz im therapeutischen Denken
Kritiker evidenzbasierter Praxis argumentieren oft: „Auch Studien zeigen nicht die absolute Wahrheit.“ Diese Aussage ist korrekt, verfehlt aber den entscheidenden Punkt.
Wissenschaftliche Studien erheben nicht den Anspruch, absolute Wahrheit abzubilden. Stattdessen bieten sie systematische Realitätsbeobachtungen unter kontrollierten Bedingungen. Diese Beobachtungen sind:
- Methodisch strukturiert
- Statistisch abgesichert
- Reproduzierbar
- Von der wissenschaftlichen Gemeinschaft überprüft
Im Vergleich dazu basieren Erfahrungen aus der Praxis auf:
- Einzelfallbeobachtungen
- Subjektiven Interpretationen
- Unkontrollierten Bedingungen
- Potenziellen Wahrnehmungsverzerrungen
Die Tatsache, dass wissenschaftliche Evidenz nicht perfekt ist, macht sie nicht wertlos. Die entscheidende Frage lautet: Was bringt uns näher an die Wahrheit? Die Antwort liegt in der Integration von:
- Wissenschaftlicher Evidenz als Fundament
- Klinischer Expertise als Rahmen
- Praktischer Erfahrung als Anwendungskompetenz
Diese Synthese ermöglicht informierte, reflektierte therapeutische Entscheidungen, die sowohl wissenschaftlich fundiert als auch praktisch anwendbar sind.
Fazit
Realität und Wahrheit sind schwer zu fassen. Doch reflektiertes Denken hilft uns, sie besser zu verstehen. Es erfordert, dass wir sowohl unsere eigenen Erfahrungen kritisch hinterfragen als auch wissenschaftliche Ergebnisse nicht blind übernehmen. Nur so können wir Patienten effektiv helfen, ohne in die Falle der Fiktion zu tappen.
Lasst uns also weiterhin reflektieren – über unsere Wahrnehmung, unsere Schlussfolgerungen und über das, was wir für wahr halten. Denn in diesem Prozess kommen wir nicht nur der Wahrheit näher, sondern werden auch bessere Therapeuten.
Der nächste Artikel erscheint in 4 Wochen! Es geht um Re-Tests. Ich werde etwas brauchen, um den Artikel fertigzustellen, da er etwas umfangreicher wird. Super wichtiges Thema! Let‘s go und immer weiter nach vorne!
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