Reflektiertes Denken 1/3: Die Kunst des Beschreibens vs. die Fallstricke des Interpretierens.
Mit dieser neuen Reihe lade ich euch zu einer kleinen, aber bedeutsamen Reise ein: zur Schulung unseres Denkens. Aus meiner Sicht sind sowohl die vorherige Rethink Pain-Reihe als auch diese kommende Serie zum „Reflektierten Denken“ elementare Grundlagen, wenn es um eine fundierte Wissensverarbeitung geht. Denn: Wissen aufzunehmen und Wissen zu verarbeiten sind zwei verschiedene Dinge. Man kann sein Laufwerk noch so sehr mit Informationen füttern – wenn es nicht darauf trainiert ist, Inhalte zu reflektieren, kritisch einzuordnen und sinnvoll zu verknüpfen, bleibt das Potenzial dieser Informationen ungenutzt. Bevor wir also inhaltlich tiefer einsteigen, lohnt es sich, unser „System“ kurz zu kalibrieren, um Fehlinterpretationen vorzubeugen. In diesem Sinne: Willkommen zu einer kleinen Denk-Schulung. Auf eine erkenntnisreiche Reise des Reflektierens!
Erinnert ihr euch noch an den Schulunterricht? An Aufgabenstellungen wie: „Beschreibe …“, „Analysiere …“, „Nimm Stellung …“? Während die reine Beschreibung meist nur die Basis bildete, gab es für die Analyse und die eigene Stellungnahme oft deutlich mehr Punkte. Das vermittelte schon damals unterschwellig: Die Fähigkeit, Informationen einzuordnen, zu bewerten und sich eine Meinung zu bilden, scheint mehr Wert zu haben als bloßes Wiedergeben.Während die Beschreibung oft nur wenige Punkte brachte, wird mir heute klar, dass sie viel mehr Beachtung verdient. Warum? Weil es für viele schwer geworden ist, nur zu beschreiben, ohne gleichzeitig zu interpretieren oder gar zu unterstellen. Beschreibung und Interpretation liegen oft erschreckend nah beieinander. Und mit der Interpretation schleichen sich häufig Unterstellung oder Einbildung ein.
Die Nähe zwischen Interpretation und Unterstellung ist gefährlich, weil unsere Schlüsse oft überschießen. Das verbreitete Narrativ suggeriert, dass man „tiefer gehen“ und Ursachen finden müsse – eine reine Beschreibung reiche nicht aus. Doch genau hier liegt ein Problem: Viele Therapeuten verfallen in eine „Detektiv-Mentalität“ um dem „Heilungsanspruch“ gerecht zu werden. Heiler sein zu wollen, schlägt sich auf einige typische Sätze nieder.
- „Ich weiß genau, was Sie haben…“
- „Legen Sie sich mal hin, das habe ich schon tausendmal behandelt…“
- „Hat man mit Ihnen bisher wirklich noch nie xy gemacht?“
Solche Aussagen zeugen oft von Ego und mangelnder Kollegialität. Manchmal scheint es, als ginge es uns mehr um uns selbst als um den Patienten. Was der Physiotherapie häufig fehlt, ist reflektiertes Denken.
In einer Welt voller Extreme, wo Werbung nur über überspitzte Formulierungen funktioniert und unzählige Fortbildungen mit fantastischen Namen und fragwürdigen Heilversprechen locken, plädiere ich für einen reflektierten Weg. Die Schulung reflektierten Denkens ist oft wichtiger als die reine Wissensvermittlung. Reflektiertes Denken bedeutet, Extreme zu meiden und Grauzonen zuzulassen. Und manchmal auch einfach nur zu beschreiben, ohne zu interpretieren…
Die Falle der vorschnellen Schlüsse
Ein klassisches Beispiel unreflektierten Denkens ist die Verwechslung von Korrelation (Beschreibung eines Zusammenhangs) und Kausalität (Interpretation dieses Zusammenhangs).
Wenn zwei Ereignisse zeitlich zusammenfallen, ziehen wir oft vorschnelle Schlüsse:
- „Beim Kreuzheben einen Faserriss erlitten? Dann ist Kreuzheben gefährlich.“
- „Nach dem Sitzen Rückenschmerzen? Muss an der schlechten Haltung liegen.“
Doch reflektiertes Denken erfordert einen breiteren Kontext:
- War es wirklich die Übung oder mangelnde Regeneration?
- Sind die Schmerzen nach dem Sitzen durch die Haltung bedingt oder durch die lange Bewegungslosigkeit?
Der Kontext macht den Unterschied
Eine Verletzung beim Sprint macht das Sprinten nicht per se gefährlich. Eine Verletzung beim Heben bedeutet nicht, dass das Heben schlecht ist. Stattdessen sollten wir fragen:
- Was ist davor passiert?
- Was kam danach?
- Welche anderen Faktoren spielen eine Rolle?
Die Kunst des nuancierten Denkens
Reflektiertes Denken bedeutet auch nuanciertes Denken. Es geht darum:
- Genau hinzuhören, was tatsächlich gesagt wurde
- Nicht immer nach Gegenargumenten zu suchen
- Vorschnelle Verurteilungen („Movement Shaming“) zu vermeiden
- Komplexität anzuerkennen
Die Wahrheit in der Konfusion
Ein wichtiger Aspekt reflektierten Denkens ist die Akzeptanz von Unklarheit. Klare, einfache Antworten erfordern oft Kompromisse, die der Wahrheit nicht gerecht werden. In der Konfusion – der Anerkennung von Komplexität und Unsicherheit – liegt oft mehr Wahrheit als in scheinbar klaren, aber vereinfachenden Erklärungen.
Das Buch „Fooled by Randomness“ von Nassim Nicholas Taleb bietet hier wertvolle Einblicke: Wir neigen dazu, Koinzidenzen oder Zufälle als Muster zu interpretieren und übersehen dabei die komplexe Realität.
Fazit
Reflektiertes Denken in der Physiotherapie bedeutet:
- Vorschnelle Schlüsse vermeiden
- Kontext beachten
- Komplexität anerkennen
- Nuanciert kommunizieren
- Unsicherheit akzeptieren
- Manchmal auch einfach mal nur: beschreiben.
In einer Welt, in der wir ständig nach Ursachen, Zusammenhängen und Deutungen suchen, geraten wir leicht in die Falle des Überinterpretierens. Wir wollen analysieren, erklären, verstehen – und verlieren dabei oft aus dem Blick, was eigentlich vor uns liegt. Die einfache, nüchterne Beschreibung tritt in den Hintergrund, obwohl sie häufig der ehrlichere, sicherere und sogar hilfreichere Zugang ist. Denn nicht alles braucht sofort eine Analyse. Nicht jede Beobachtung muss zur Diagnose, nicht jede Veränderung zur Erklärung führen. Wer sich nur noch im Analysieren verliert, sieht irgendwann mehr das eigene Denkgebäude als den Menschen, der davorsteht. Vielleicht ist es manchmal klüger, innezuhalten und einfach nur zu beschreiben: Was sehe ich? Was zeigt sich? Was sagt mein Gegenüber wirklich? In der Klarheit der Beschreibung liegt oft mehr therapeutische Wirksamkeit als in der Suche nach tieferliegenden Ursachen, die womöglich gar nicht existieren.
Reflektiertes Denken heißt auch, den Mut zur Unschärfe zu haben. Und manchmal ist der beste erste Schritt nicht, mehr zu wissen – sondern, klarer hinzuschauen.
Der nächste Artikel „Reflektiertes Denken 2/3“ erscheint in 2 Wochen! Let‘s go und immer weiter nach vorne!
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