Reflektiertes Denken 2/3: Was ist normal und ab wann ist es ein Defizit? Ein neuer Blick für die Therapie.
Physiotherapeuten und Ärzte verwenden traditionell das postural-strukturell-biomechanische (PSB)-Modell und sehen in biomechanischen Funktionsdefiziten häufig die Ursache von Schmerzsymptomen ihrer Patienten, wie z.B. die fehlende Beweglichkeit im Sprunggelenk für das Fortbestehen von Schmerzen nach einem Supinationstrauma. Interessante Situation: Aus der Untersuchung gehen sowohl schmerzhafte Bewegungen in einem Gelenk und im selben Gelenk ein Funktionsdefizit, z.B. eine Beweglichkeitseinschränkung in Dorsalflexion, hervor. Zwei gleichzeitige Beobachtungen, eine gemeinsame Verbindung? Besteht der Schmerz aufgrund der verminderten Beweglichkeit, also ein biomechanisches Defizit hier als Ursache? Oder hat die Beweglichkeit abgenommen aufgrund von Schmerzen, also ein biomechanisches Defizit als Folge von Schmerzen? Gibt es einen anderen Grund für den Schmerz, welcher aber nicht untersucht wurde oder werden konnte?
Freut sich der Untersucher manchmal zu früh, wenn er etwas findet, nur um am Ende nicht nichts gefunden zu haben?
Alles interessante Fragen, über die es sich zu überlegen lohnt.
Das „Defizit“ ist ein sprachliches Nocebo
In unserem Berufsalltag neigen wir häufig dazu, Defizite nicht nur zu beschreiben, sondern sofort zu interpretieren. Aber wer definiert eigentlich, was ein Defizit ist? Wer legt fest, was „normal“ ist? Der Begriff Funktionsdefizit ist in der physiotherapeutischen Praxis tief verwurzelt. Doch diese Bezeichnung trägt eine implizite negative Wertung in sich, die oft nicht haltbar ist. Können wir wirklich nachweisen, dass eine verminderte Beweglichkeit oder eine Asymmetrie „schlecht“ ist? Die Antwort ist meist: Nein.
Betrachten wir die Sprache genauer: Begriffe wie „Funktionsdefizit“, „abnormal“ oder „atypisch“ prägen unser therapeutisches Denken und Handeln. Neutralere Begriffe wie „Funktionsunterschied“ oder „Funktionsdifferenz“ würden einen objektiveren Blick ermöglichen. Sie beschreiben einen Unterschied, ohne ihn automatisch als negativ oder ungesund zu klassifizieren. Selbst der scheinbar neutrale Begriff „Asymmetrie“ birgt eine versteckte Wertung. Durch das Präfix „A-“ wird suggeriert, dass Symmetrie der Normalzustand sei und Asymmetrie die Abweichung. Aber: Ist die Asymmetrie nicht vielleicht sogar die Norm? Und die Symmetrie, die Ausnahme? Spannende Gedanken, die es zu pflegen lohnt.
Ein Gedankenexperiment: Die Besitz-Analogie
Person A besitzt ein Auto, Person B nicht. Oberflächlich betrachtet hat Person B ein „Defizit“. Beide verdienen 2500€ netto monatlich. Person A zahlt 600€ monatliche Unterhaltskosten für das Auto, während Person B diese Summe anderweitig nutzen kann. Wer hat hier wirklich ein Defizit?
Die Antwort hängt vom individuellen Bedarf ab. Braucht Person A das Auto für Arbeit oder Lebensqualität, sind die Kosten zwar ressourcenverwendend, aber nicht ressourcenverschwendend, da sinnvoll investiert. Person B hingegen benötigt kein Auto – hier liegt also kein Defizit vor, sondern eine bedarfsgerechte Situation.
Sportliche Spezialisierung und „Defizite“
Dieses Prinzip lässt sich hervorragend auf den Sport übertragen:
- Ein Handballer entwickelt asymmetrische Schulterrotation – kein Defizit, sondern eine sportartspezifische Anpassung
- Ein Hochleistungssportler hat möglicherweise eingeschränkte Beweglichkeit in bestimmten Bereichen – dies kann sogar leistungsfördernd sein
- Ein Tennisspieler zeigt unterschiedliche Armumfänge – eine natürliche Adaptation
Wie ein Sportwagen nicht für möglichst großen Innen- oder Kofferraum konzipiert ist, sondern für Geschwindigkeit, sind auch unsere körperlichen Eigenschaften an unsere spezifischen Anforderungen angepasst. Das vermeintliche „Defizit“ ist oft Voraussetzung für spezialisierte Leistung.
Der Widerspruch unserer Zeit
Während unsere Gesellschaft zunehmend Diversität feiert, halten sich in der Medizin und Therapie hartnäckig standardisierte Ideale:
- „Korrekte“ Sitzhaltungen
- „Richtige“ Bewegungsmuster
- Ergonomische Standards
- Nackenstützen beim Schlafen
- „Ergonomische“ Computermausinnovationen
Die Frage ist: Wer definiert diese Ideale? Und auf welcher wissenschaftlichen Grundlage?
Asymmetrie als Normalität
Neue Untersuchungsergebnisse zeigen, dass viele vermeintliche Funktionsdefizite:
- Keinen Risikofaktor für Schmerzentstehung darstellen
- In der Allgemeinbevölkerung häufig vorkommen
- Oft sogar funktionelle Vorteile bieten können
Seitenunterschiede entstehen durch individuelle Anforderungen im Alltag, Beruf und Sport. Diese Asymmetrien sind nicht nur unvermeidlich, sondern oft sogar vorteilhaft für die spezifischen Anforderungen des Individuums.
Funktionalität statt Normativität
Die entscheidende Frage in der Therapie sollte nicht lauten: „Entspricht diese Bewegung/Haltung/Struktur der Norm?“, sondern: „Ermöglicht sie dem Menschen, seine individuellen Ziele zu erreichen?“ Ein Kampfsportler benötigt andere Bewegungsqualitäten als eine Bühnentänzerin, ein Programmierer andere als ein Bauarbeiter. Funktionalität ist kontextabhängig und individuell – sie lässt sich nicht an abstrakten Normen messen. Unsere therapeutische Intervention sollte daher nicht auf die Herstellung einer vermeintlichen Normalität abzielen, sondern auf die Optimierung funktioneller Kapazitäten für den spezifischen Lebenskontext des Patienten.
Die Ressourcenperspektive
Statt uns auf „Defizite“ zu fokussieren, sollten wir verstehen, dass jede körperliche Eigenschaft Ressourcen benötigt. Eine größere Beweglichkeit oder Kraft in einem Bereich bedeutet auch einen höheren Energieaufwand für deren Erhaltung. Die Frage sollte nicht sein „Was fehlt?“, sondern „Was wird tatsächlich gebraucht?“
Ein neuer Ansatz für die Praxis
Als Therapeuten sollten wir:
- Neutral beschreiben statt zu werten
- „Die rechte Schulter zeigt 15° mehr Außenrotation“ statt „Defizit in der linken Außenrotation“
- Individuelle Anforderungsprofile berücksichtigen
- Was braucht der Patient in seinem Alltag/Sport/Beruf wirklich?
- Welche Adaptationen sind funktionell sinnvoll?
- Ressourcenorientiert denken
- Fokus auf vorhandene Fähigkeiten
- Bedarfsgerechte Entwicklung von Eigenschaften
Fazit und Ausblick
Der Paradigmenwechsel von der Defizit- zur Differenzorientierung ist überfällig. Als reflektierende Therapeuten müssen wir unsere Sprache und damit unser Denken überprüfen und anpassen. Nicht jeder Unterschied ist ein Defizit, nicht jede Asymmetrie ein Problem.
Die Zukunft der Physiotherapie liegt in einer individualisierten, wissenschaftlich fundierten und ressourcenorientierten Betrachtung unserer Patienten. Dabei gilt es, die Balance zwischen fachlicher Expertise und kritischer Selbstreflexion zu wahren. Und nicht Problemen in Dingen zu suchen, in denen es keine gibt.
Der nächste Artikel „Reflektiertes Denken 3/3“ erscheint in 2 Wochen! Let‘s go und immer weiter nach vorne!
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