Rethink Pain 2/3: Warum wir Therapieansätze von null aus neu definieren müssen. Ein Aufruf an Dozenten und Fortbilder.
Therapie neu denken: Eine kritische Selbstreflexion
„Das habe ich schon hundertmal behandelt“ oder „Ich weiß genau, was Sie haben“ – kennen Sie diese Gedanken? Als Therapeuten neigen wir oft dazu, uns als „Problemkenner“ oder „Heiler“ zu sehen. Doch diese Haltung verdient eine kritische Betrachtung. Warum? Weil sie uns möglicherweise daran hindert, wirklich effektiv zu therapieren. Diese Selbstüberschätzung führt zu einer gefährlichen Tunnelsicht. Wir verlieren die Fähigkeit, offen und unvoreingenommen auf unsere Patienten zu schauen. Die Anamnese verkommt zur Bestätigung unserer vorgefassten Meinungen.
Die Fallstricke des Heiler-Denkens
Besonders in der manuellen Therapie überschätzen wir häufig unsere Fähigkeiten. Wir glauben, Dysfunktionen ertasten und durch passive Techniken korrigieren zu können. Wenn es dem Patienten nach der Behandlung besser geht, klopfen wir uns auf die Schulter – ohne zu berücksichtigen, dass vielleicht das aufmerksame Zuhören, die Kommunikation oder andere Faktoren im Behandlungszimmer den eigentlichen Unterschied gemacht haben. Dabei übersehen wir oft die Macht der therapeutischen Beziehung. Unser Ego verleitet uns dazu, den Erfolg allein unseren technischen Fähigkeiten zuzuschreiben. Die Realität ist komplexer: Jede erfolgreiche Behandlung ist ein Zusammenspiel vieler Faktoren.
Die Gefahr vorschneller Schlüsse
Wie oft ziehen wir simple Kausalitäten, wo komplexe Zusammenhänge vorliegen? Wenn jemand beim Heben einen Faserriss erleidet, schlussfolgern wir vorschnell: „Heben ist gefährlich.“ Dabei übersehen wir möglicherweise wichtigere Faktoren wie mangelnde Regeneration oder inadäquate Belastungssteigerung. Diese vereinfachte Sichtweise schadet unseren Patienten mehr als sie nutzt. Sie führt zu unnötigen Ängsten und Vermeidungsverhalten. Stattdessen sollten wir den Kontext analysieren und verstehen lernen.
Zwischen den Extremen
Die Physiotherapie scheint manchmal zwischen Extremen zu pendeln: Auf der einen Seite die „Strukturalisten“ mit starker biomechanischer Orientierung, auf der anderen Seite die „Psychoedukations-Verfechter“. Beide Extreme werden der Komplexität unserer Arbeit nicht gerecht. Ein reflektierter Therapeut erkennt: Es geht nicht um ein „Entweder-oder“, sondern um ein „Sowohl-als-auch“. Die Wahrheit liegt oft in der Grauzone dazwischen. Wir brauchen beide Perspektiven, um unseren Patienten optimal helfen zu können. Die Kunst liegt darin, situativ zu entscheiden, welcher Ansatz gerade am hilfreichsten ist.
Der Weg nach vorne
Was wir brauchen, ist nuanciertes Denken. Statt Patienten in vorgefertigte Behandlungsschemata zu pressen, sollten wir jeden Fall individuell und kontextbezogen betrachten, wissenschaftliche Erkenntnisse mit klinischer Erfahrung verbinden und unsere eigenen Überzeugungen regelmäßig hinterfragen. Dies erfordert kontinuierliche Weiterbildung und kritische Selbstreflexion. Nur so können wir uns von starren Denkmustern lösen. Der Schlüssel liegt in der Balance zwischen Erfahrungswissen und wissenschaftlicher Evidenz.
Die Macht der Kommunikation nutzen
Ein falsches Wort, und schon ist die Stimmung im Keller. Dieses Szenario kennen wir alle aus unserem privaten Leben. Worte können Menschen, die eh schon wegen Problemen bei uns sind und ggf. sorgen mitbringen, noch mehr verunsichern und zu einer Schmerz-Chronifizierung beitragen. Unsere Worte sind mächtig. Ein Satz wie „Ihr Rücken ist instabil“ kann beim Patienten unbewusst Zweifel und Unsicherheit säen. Stattdessen sollten wir unseren Fokus auf positive Verstärkung legen. Durch eine gezielte, evidenzbasierte Kommunikation können wir nicht nur Schmerzen lindern, sondern auch Vertrauen aufbauen – ein essenzieller Faktor für erfolgreiche Therapieergebnisse.
Eine neue therapeutische Identität
Vielleicht liegt unsere wahre Stärke nicht im „Heilen“, sondern im kompetenten Begleiten. Dies erfordert Demut, kontinuierliche Selbstreflexion und den Mut, etablierte Denkmuster zu hinterfragen. Nur so können wir uns von „Heilern“ zu echten therapeutischen Partnern entwickeln. Diese Entwicklung braucht Zeit und Geduld. Sie bedeutet auch, manchmal zugeben zu müssen, dass wir nicht alle Antworten haben. Doch genau darin liegt unsere Chance auf echte professionelle Weiterentwicklung.
Die Zukunft der Physiotherapie liegt nicht in der Vereinfachung, sondern in der bewussten Auseinandersetzung mit der Komplexität unserer Arbeit. Sind Sie bereit, diesen Weg mitzugehen? Es wird Zeit, dass wir uns von alten Dogmen verabschieden. Lasst uns gemeinsam eine neue, reflektiertere Physiotherapie gestalten.
Sei gespannt auf meinen nächsten Blogartikel „Rethink Pain 3/3“! Hau rein und bis bald!
Melde dich hier an und erhalte regelmäßig Blogartikel automatisch per Mail zugeschickt.
- kostenlos
- werbefrei
- regelmäßig