Rethink Testing: Eine kritische Betrachtung des therapeutischen Re-Tests.
Der Re-Test nach einer therapeutischen Intervention gilt als Goldstandard der klinischen Praxis. Er soll uns zeigen, ob unsere Behandlung wirksam war und ob unsere Hypothese zur Schmerzursache zutrifft. Doch wie verlässlich sind diese Schlussfolgerungen wirklich? Dieser Beitrag beleuchtet die Tücken der Re-Test-Interpretation und plädiert für einen differenzierteren Umgang mit therapeutischen Erfolgserlebnissen.
Die Doppelfunktion des Re-Tests
In der Ausbildung lernen wir den Re-Test als unverzichtbares Werkzeug kennen. Er dient nicht nur der Überprüfung des Behandlungserfolgs, sondern auch der Validierung unserer Hypothese über die Schmerzursache. Wenn ein Patient nach einer Intervention weniger Schmerzen angibt, ziehen wir typischerweise zwei Schlüsse:
- Die Behandlung war wirksam.
- Unsere Annahme über die Schmerzursache war korrekt.
Doch während der erste Schluss durchaus berechtigt sein kann, auch wenn sich diese Wirksamkeit erst einmal nur kurzfristiger Natur ist, ist der zweite oft ein Trugschluss, der unser klinisches Denken in die Irre führt und zu vereinfachten Erklärungsmodellen verleitet.
Der logische Fehlschluss: Von der Lösung zur Ursache
Eine Schmerzlinderung nach einer Intervention beweist keineswegs, dass der vermutete Wirkmechanismus zutreffend ist. Es handelt sich um einen logischen Fehlschluss, wenn wir von der Wirksamkeit einer Lösung auf die ursprüngliche Ursache schließen. Ein Beispiel verdeutlicht dies: Wenn Krafttraining Rückenschmerzen lindert, bedeutet das nicht automatisch, dass mangelnde Kraft die Ursache der Schmerzen war. Ebenso wenig ist die Abwesenheit der Feuerwehr die Ursache eines Brandes, nur weil ihr Einsatz das Feuer erfolgreich bekämpft. Die Gleichsetzung von Lösungsweg und Ursache ist verlockend einfach, aber wissenschaftlich unhaltbar und führt zu fragwürdigen therapeutischen Narrativen.
Die Kette ungeprüfter Annahmen in der therapeutischen Praxis
Wie kommen wir darauf, dass eine Vermutung oder Theorie über den Behandlungsmechanismus, stimmt? Betrachten wir exemplarisch den Ablauf einer typischen Faszientherapie:
- Der Therapeut denkt, dass eine Fasziendistorsion Schmerzen verursacht.
- Der Therapeut glaubt, eine Fasziendistorsion festgestellt zu haben.
- Der Therapeut geht davon aus, dass die Beseitigung der Distorsion die Schmerzen lindern wird.
- Der Therapeut übt intensive Druck- und Zugtechniken aus.
- Der Patient hat weniger Schmerzen.
- Der Therapeut denkt, dass die Faszie nun geschmeidiger ist und deshalb die Schmerzlinderung eintrat.
Punkt 6 stimmt nur dann, wenn Punkt 1, 2, 3 und 4 nachgewiesen werden können.
- Ist Punkt 1 überhaupt eine nachgewiesene Ursache für Schmerzen?
- Falls ja, kann eine solche in Punkt 2 zuverlässig festgestellt werden?
- In der Praxis findet Punkt 2 oft gar nicht statt – stattdessen wird direkt von Punkt 1 auf Punkt 3 geschlossen.
- Hat Punkt 3 überhaupt durch die Intervention in Punkt 4 stattgefunden?
- Worauf sich viele Therapeuten berufen, um den Behandlungsmechanismus (Punkt 6) zu erklären, ist die beobachtete Behandlungswirksamkeit – also Punkt 5.
Der Therapeut postuliert also initial, dass eine Fasziendistorsion die Schmerzursache darstellt. Auf Basis dieser Annahme erfolgt die vermeintliche Identifikation einer solchen Distorsion beim Patienten. Es wird weiter angenommen, dass die Beseitigung dieser Distorsion zur Schmerzlinderung führen wird. Nach Anwendung intensiver Druck- und Zugtechniken berichtet der Patient tatsächlich über reduzierte Schmerzen. Der Therapeut schließt daraus, dass die Faszie nun geschmeidiger ist und deshalb die Schmerzlinderung eintrat. Diese Schlussfolgerung ist jedoch nur dann valide, wenn jeder einzelne vorherige Schritt dieser Kausalkette nachgewiesen werden kann. Ist Fasziendistorsion tatsächlich eine mögliche Schmerzursache? Lässt sie sich klinisch zuverlässig diagnostizieren? Haben die applizierten Techniken nachweislich eine strukturelle Veränderung der Faszie bewirkt? Oft erfolgt der Sprung von der theoretischen Annahme direkt zur Behandlung, ohne diagnostische Verifizierung. Die entscheidende Problematik: Als „Beweis“ für die Richtigkeit des angenommenen Behandlungsmechanismus wird lediglich die Schmerzreduktion herangezogen – ein klassischer Zirkelschluss, der die Komplexität physiologischer und psychologischer Heilungsprozesse ignoriert und eine trügerische Sicherheit über Wirkmechanismen suggeriert, die wissenschaftlich keineswegs gesichert sind.
Wenn die Forschung unsere Annahmen herausfordert
Die wissenschaftliche Literatur bietet zahlreiche Beispiele, die unsere kausalen Annahmen in Frage stellen. Studien zur spinalen Manipulation zeigen eine deutliche Schmerzreduktion ohne nachweisbare Veränderungen der Wirbelposition oder Gelenkbiomechanik. Dies widerlegt die Annahme, dass die vermeintliche „Fehlstellung“ der Wirbel ursächlich für die Schmerzen war. Ähnliches gilt für die Behandlung des patellofemoralen Schmerzsyndroms: Krafttraining des Gluteus medius und funktionelles Beinachsentraining reduzieren zwar die Symptome, verändern aber nicht den Valguswinkel (Rabelo & Lucareli, 2018; Wilczyński et al., 2022). Diese Diskrepanz zwischen unveränderter Biomechanik und verbesserter Symptomatik stellt die traditionellen Erklärungsmodelle fundamental in Frage.
Was uns diese Forschungsergebnisse wirklich sagen
Diese Studien verdeutlichen zwei wesentliche Punkte: Erstens können therapeutische Interventionen tatsächlich wirksam Schmerzen reduzieren. Zweitens falsifizieren sie jedoch die Annahme, dass die initial vermuteten biomechanischen Faktoren die Schmerzursache waren. Wenn die vermeintlichen strukturellen Defizite nach der Therapie unverändert bestehen, während die Schmerzen nachlassen, können sie nicht kausal für die Schmerzen gewesen sein. Dies bedeutet keineswegs, dass unsere Behandlungen unwirksam sind – es bedeutet lediglich, dass sie vermutlich über andere Mechanismen wirken als die, die wir traditionell angenommen haben. Diese Erkenntnis erfordert eine ehrliche Neubewertung unserer Erklärungsmodelle und therapeutischen Kommunikation.
Die Grenzen des biomechanischen Paradigmas
Das postural-strukturell-biomechanische Modell dominiert seit Jahrzehnten das therapeutische Denken. Es basiert auf der Annahme, dass strukturelle Abweichungen – wie eingeschränkte Beweglichkeit oder Achsabweichungen – ursächlich für Schmerzen sind und dass deren Korrektur die Schmerzen beseitigt. Nach diesem Modell interpretieren wir eine Schmerzlinderung nach einer Behandlung als Beweis für eine erfolgreiche Korrektur des strukturellen Problems. Doch diese Interpretation basiert auf einem Zirkelschluss: Die Schmerzlinderung wird gleichzeitig als Indikator für die erfolgte Korrektur und als deren Folge betrachtet. Die eigentliche Frage, ob tatsächlich eine messbare Veränderung des vermeintlichen strukturellen Defizits stattgefunden hat, wird selten überprüft – und wenn, dann oft mit ernüchternden Ergebnissen.
Posthocergopropterhocitis
In der therapeutischen Gemeinschaft ist ein besonderes kognitive Verzerrung verbreitet, die man als „Post-hoc-ergo-propter-hocitis“ bezeichnen könnte. Es beschreibt die virale Tendenz von Therapeuten, ihren spezifischen Einfluss zu überschätzen und eine zeitliche Abfolge (post hoc, also danach) automatisch als kausale Beziehung (propter hoc, also deswegen) zu interpretieren. Der Re-Test zeigt weniger Schmerzen, also muss es an unserer spezifischen Technik oder Übung gelegen haben. Dieses vereinfachende Denken führt dazu, dass wir uns selbst und unsere Methode in den Mittelpunkt stellen und andere potenzielle Faktoren ausblenden, die ebenfalls zur Schmerzlinderung beigetragen haben könnten. Es fördert ein reduktionistisches Weltbild, das der Komplexität von Schmerz und Heilung nicht gerecht wird. EDUPAIN impft dich gegen den tückischen Virus Posthocergopropterhocitis! 😂
Die vielfältigen Wege der Schmerzlinderung
Die Schmerzlinderung nach einer Intervention kann über zahlreiche Wege erfolgen, die mit dem ursprünglich angenommenen Wirkmechanismus wenig zu tun haben. Nach einer zervikalen Manipulation beispielsweise könnte die Schmerzreduktion durch neurophysiologische Mechanismen wie die absteigende Schmerzhemmung vermittelt sein. Ebenso könnten psychologische Faktoren wie die Modulation des Predictive Coding durch therapeutische Kommunikation eine entscheidende Rolle spielen. Weitere mögliche Faktoren sind der natürliche Heilungsverlauf, die therapeutische Beziehung, Placebo-Effekte oder schlicht eine Regression zur Mitte, also wenn es einem richtig schlecht geht, geht es einem bald nur noch etwas schlecht. Nach einem negativen Peak gibt es immer eine Regulation in die Mitte. Diese Erkenntnis bedeutet nicht, dass wir als Therapeuten keinen Einfluss haben – aber vielleicht wirken unsere Interventionen auf andere Weise als bisher angenommen. Diese Einsicht sollte unsere therapeutische Identität nicht bedrohen, sondern zu einem tieferen, nuancierteren Verständnis unserer Arbeit führen.
Der wertvolle Beitrag des Re-Tests zur Patientenversorgung
Trotz aller methodischen Einschränkungen kann der Re-Test einen wertvollen Beitrag zur Patientenversorgung leisten. Er demonstriert dem Patienten die grundsätzliche Modifizierbarkeit seiner Symptome – ein besonders wichtiger Aspekt bei Patienten mit negativen Glaubenssätzen bezüglich ihrer Prognose. Ein positiver Re-Test kann Hoffnung vermitteln und katastrophisierende Gedanken reduzieren. Allerdings sollte dies mit angemessener Transparenz geschehen: Die Erklärung, dass eine kurzfristige Verbesserung die grundsätzliche Veränderbarkeit des Zustands zeigt, ohne überzogene Behauptungen über langfristige Wirkungen oder spezifische Wirkmechanismen, ist sowohl ehrlich als auch therapeutisch wertvoll. Der Re-Test wird so vom vermeintlichen diagnostischen Werkzeug zum therapeutischen Element der Hoffnungsvermittlung. Dennoch sollte der Fokus weniger auf dem Re-Test direkt nach der Therapie, sondern auf durchschnittliche Schmerzlevel über mehrere Tage gelegt werden. Das ist alltags- und funktionsrelevant. Wir brauchen mehr Prozessdenken, ansonsten konditionieren wir unsere Patienten dazu, Quick-Fixes zu erwarten. Und schimpfen dann auch noch über sie… man erntet eben, was man sät!
Immunisierung gegen kognitive Verzerrungen
Wie können wir uns gegen die Verlockungen vereinfachender Kausalitätsannahmen wappnen? Die Antwort liegt in kontinuierlicher Bildung und kritischer Reflexion. Das Studium aktueller Forschungsliteratur, die Teilnahme an evidenzbasierten Fortbildungen, intellektuelle Neugier und die Bereitschaft, eigene Überzeugungen zu hinterfragen, sind unsere wichtigsten Verbündeten. Besonders wertvoll ist der kollegiale Austausch mit kritisch denkenden Fachpersonen und die regelmäßige Selbstreflexion: „Worauf basiert meine Annahme? Welche alternativen Erklärungen könnte es geben? Was sagt die aktuelle Evidenz dazu?“ Diese Haltung erfordert intellektuellen Mut und die Bereitschaft, liebgewonnene Überzeugungen loszulassen – doch sie ist der Weg zu einer ehrlicheren und letztlich wirksameren therapeutischen Praxis.
Fazit: Ein reflektierter Umgang mit dem Re-Test
All das soll nicht heißen, dass wir wirkungslos sind und wir uns nicht mehr freuen sollten, wenn es dem Patienten, wenn auch nur kurzfristig, besser geht. Macht euch locker, freut euch mit und verbreitet positive Emotionen. Ich möchte nur dazu anregen nachzudenken, dass zur Schmerzlinderung etwas mehr dazu gehört als nur unser spezifischer Beitrag. Seid Stolz auf Verbesserung, hütet euch aber euch und eure Therapie in den Vordergrund zu stellen. Der Re-Test bleibt ein sinnvolles Element der therapeutischen Praxis – wenn wir seine Aussagekraft angemessen einordnen. Er kann wertvolle Informationen über die unmittelbare Reaktion des Patienten liefern, zur therapeutischen Beziehung beitragen und den Patienten in seiner Selbstwirksamkeit stärken. Was er nicht leisten kann, ist die Validierung spezifischer Wirkmechanismen oder die Bestätigung ätiologischer Annahmen. Diese Einschränkung anzuerkennen bedeutet nicht, den Wert unserer Interventionen zu schmälern, sondern ihn auf eine solidere wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Eine solche therapeutische Demut öffnet den Blick für die tatsächliche Komplexität von Schmerz und Heilung und führt letztlich zu einem reiferen, nuancierteren Verständnis unserer therapeutischen Rolle.
Der nächste Artikel erscheint in 4 Wochen! Es geht darum, wie wir uns selbst und unsere Patienten kategorisieren/labeln, und diskutieren dessen Sinnhaftigkeit. Let‘s go und immer weiter nach vorne!
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